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Kunsthistorische Aspekte zum Thema „Spuren“

 

Eine Einführung

Protokoll nach dem Vortrag von Prof. Dr. Bernd Rau zum SCHULKUNST-Thema „Spuren“ 06/07  

Oktober/November 2005 an der Akademie Schloss Rotenfels

Protokollantin: Heidi Herz, Überarbeitung: Redaktionsgruppe Spuren, Bildrecherche: Frieder Kerler

 

Spuren sind Zeugen. Sie laden ein zu einer Reflexion über die Zeit,  berichten von Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit und zeigen Reflexionen über Geschichtlichkeit.Teilhabe an der Gegenwart ist auch Teilhabe an der Vergangenheit. Spuren künden stets von Vergangenem. Die Bewahrung von Gewesenem setzt aber Evokationen frei, Assoziationen und Erwartungen. Künstler sind vornehmlich diejenigen, die Spuren legen.

Im Folgenden also 6 Abschnitte mit jeweils 2 konträr zueinander stehenden Begriffen sowie, quasi als medialer Nachtrag, im siebten  Abschnitt einige Bemerkungen zur Fotografie.

 

1) Spolien und Ruinen

Spolie ist abgeleitet von spolium und bedeutet abgezogenes Fell. Spolia meint übertragen, „die dem besiegten Feind geraubte Rüstung“. Also allgemein Beute, Raub, Siegespreis. In diesem Sinne werden Elemente vergangner Zeiten öfter in ein neues Werk integriert.

• 01 Konstantinsbogen Rom, 312/315. Der Ehrenbogen, 312 begonnen, vollendet 315 zur Feier des 10. Regierungsjubiläums Konstantins. Die Reliefs beziehen sich auf das Leben Konstantins (Wildschweinjagd). Werke aus Bauten Marc Aurels wurden verwendet, um die Reliefs zu schaffen. Die Physiognomie des Jägers wurde abgeschlagen und statt  dessen mit einem Kopf Konstantins ergänzt. Der Austausch des Portraits ist Ausdruck der Macht Konstantins.

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• 02 Pfalzkapelle, Aachener Dom, c. 790/95. Karl der Große hat für seine Krönungskirche Säulen aus Rom und Ravenna herbeischaffen lassen. Die Säulen haben keinen technischen Zweck zu erfüllen, sie zeigen nur die Macht des Herrschers. Das Zitat spielt darauf an, das Erbe dieser glanzvollen Epoche anzutreten.

Spolien sind Spuren der Vergangenheit, ebenso Ruinen. Spolien sind der Wirklichkeit entnommen, ihr entrissen, künstlerisch neu interpretiert mit politischem Hintergrund.

 

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• 03 Ruinen entstehen im Laufe der Zeit oder durch Gewalteinwirkung (Kriegshandlungen) teils auf grausame Art und Weise. Es wurden aber auch Ruinen künstlich hergestellt, z. B. in der Nähe von Sans Souci, Mitte des 18. Jh. von Knobelsdorff als neu gebaute Monumente im griechisch römischen Stil. Sie bringen die Begeisterung für die klassische Antike zum Ausdruck, in der Zeit, in der man begann, Pompeji zu entdecken. Klassizismus begab sich auf die Spuren der Vergangenheit.

„Die Ruinen schneiden sich schön gegen den blauen Himmel ab.“ (Spruch aus Sans Souci)

Abbildung unter www.mobil-potsdam.de

 

Romantik baut nach dem Vorbild englischer Architektur, mittelalterlicher Architektur. Burganlagen, die Ruinen integrieren, in intakte andere Gebäude. Romantik und Klassizismus richten sich in ihren Interessen stark  an der Vergangenheit aus. Beispiel:

• 04 Heinrich Christoph Jussow, Löwenburg bei Kassel, 1793/1801.

Ähnlich rückwärts gewandte Bewegungen findet man in der Postmoderne.

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• 05 Beispiel: Die Site BEST-Filiale in Houston greift auf das Bild der Ruine zurück, zumindest im Äußeren. Im Sinne einer Vergegenwärtigung von Vergangenem, in Erinnerung an Formen aus der Vergangenheit.

 

2) Fraktur und Motiv

Muss man sehen als Zeichen der Spur in der Entstehung eines Werkes,  Ausblick auf die Kunst, die entsteht.

• 06 Michelangelo, Erwachender Sklave 1525. Individuelle Modifikation einer Norm, keine Rede von Verfall als Dokument der Zeit. Aspekt der Entstehung wird verknüpft mit dem Unvollendeten. Es ist ein Stadium des Aufbaus und kein Zeichen von Verfall. Die Züge der Bearbeitung des Marmors zeigen, wie der Stein ursprünglich war. Spuren als Zeichen der Bearbeitung des Steins und der verwendeten Werkzeuge.

 

• 07 Ähnliches gibt es auch bei Holzplastiken. Werkzeugspuren Pablo Picasso Karyatide. Die blockhafte Bindung an den Werkstoff Holz kann man genauso erkennen wie Werkzeugspuren an der Oberfläche.

 

• 08 Giacometti, Diego II, Bronzeguss. Macht in der Oberfläche Züge der Hand sichtbar, des Prozesses der Formfindung und der Modellierung, des Suchens. Auch hier verweist die Werkspur auf den Entstehungsvorgang.

Mehr bei www.privateartcollection.net 

 

• 09 Giacomettis Zeichnung Coin de table weist ebenfalls deutliche Spuren der Entstehung auf. Sartre: Das Werk entsteht durch einen Strich und dann durch einen zweiten und dann durch einen dritten! Das Ringen um die Form, das mit der Entstehung verbunden ist. Ein suchender, immer wieder neu ansetzender Strich. Ein Strich wird präziser und ersetzt einen vagen Vorgänger. Es wird zwar radiert; dennoch bleibt das Ursprüngliche sichtbar.

• 10 Rembrandt die Judenbraut 1665, Material- und Werkzeugspezifische Spuren werden sichtbar. Pinselstriche sind sichtbar im pastosen, reliefartigen Farbauftrag. Die Fraktur zeigt Spuren der Werkzeuge Pinsel und Spachtel.

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• 11 Justinus Kerner, Hadesbild, 1850/1860

„Diese Bilder aus dem Hades alles schwarz und … haben selbst gebildet sich mir zum Schrecken einzig nur aus Tintenflecken.“ Zitat Kerner, der frühe Klecksografien, später wird man Décalcomanien sagen, fertigte. Mit ein paar Federstrichen kann man der Deutlichkeit, der Erkennbarkeit nachhelfen. Dieses Werk erinnert an archaische Kunst, und zeigt „Spuren“ der Person, der die Kleckse deutet und ergänzt.

 

• 12 Max Ernst, La mer et le soleil, 1925. Surrealismus hat einen Hang zur Romantik (schwarze Romantik). Max Ernst war Liebhaber des Waldes, die Romantik war Teil seiner Seele. Frottagen sind ganz unmittelbar die grafischen Spuren ihrer Entstehung, meist Spuren der Natur.

 

• 13 Bei André Masson, Homme et poisson, handelt es sich um eine Schüttung. Er hat Leim auf die Leinwand aufgetragen und danach Sand. Sand, der nicht haften blieb, wurde wieder weg geblasen. So entstand eine Figur, ein Motiv als Einladung zur Interpretation.

Die künstlerischen Verfahren zur Text und Bildproduktion (écriture automatique, dessin automatique) ähneln sich in der Absicht Unterbewusstes sichtbar zu machen.

 

3) Geste und Materie

Von Hand hergestellt aber ohne abbildhaftes Motiv.

• 14 Kandinskys erstes abstraktes Aquarell. Absage an die Darstellung des Gegenstands, freie Setzung von Strichen und Farben. Bekenntnis zu einer expressiv gestischen Malerei als Ausdruck eines eigenen Weltbilds. Impression, Interpretation und Expression und Komposition sind die Hauptmerkmale. Befreiung der Linie von einer kontrollierten Form. Ausdruck innerer Bewegung und psychische Funktion.

 

• 15 Wols, „Bild“ besteht aus Flecken und Strichen. Die Formensprache zeigt die subjektive Regung des Künstlers.

 

• 16 Pollocks, Number I, zeigt direkt die Gesten, die mit der Hand ausgeführt wurden. Er schüttet und tropft Farbe, das sogenannte Dripping. Eine indirekte Methode, denn die Hand hat keinen unmittelbaren Kontakt zur Malfläche.

 

• 17 Henri Michaux, „Ohne Titel“, tachistische Fleckenmalerei. Tintenflecke oder Tuschflecke zeigen eine Suggestion vulkanischen Geschehens als Gesten seelischer Bewegung, die in den Flecken sichtbar werden. Ihr Wesen ist die Bewegung, ihre Erscheinung die Spur. Vorstellungen, bereits vorhandene Bilder, die durch mein Gedächtnis ziehen, werden dadadurch gezwungen unmittelbar zu erscheinen. Es muss  etwas sein, das beim Betrachter sofort etwas erzeugt, das dessen innere Welten anspricht.

 

• 18 Jean Dubuffet, Friuts et terre, gehört zum Genre der Materialbilds, zeigt formale Analogien zum Tachismus, ist aber keine gestische Malerei. Es besteht aus stark texturierter Pappmaché als Ergebnis eines Gestaltungsprozesses der Stofflichkeit des Materials. 

Materie erscheint so als Relikt vergangenen Lebens.

 

• 19 Antoni Tàpies zeigt Materie greifbar. Er reichert Leim mit Sand, Erde und Pikmenten an um nach dem Trocknen die Oberfläche zu überarbeiten, aufzureißen, etwa ins Material grafische Zeichen zu gravieren. Starke Beziehung zu „Gesten“ eingeschriebene Linien, Zahlen.... „Mauer als Ausdrucksmittel“ ist ganz wörtlich zu verstehen. „tapia“ bedeutet im Spanischen „Mauer“. Mauern zeigen Spuren von Jahrhunderte gelebten Lebens. Mauer wird als Zeugnis lesbar für den Lauf der Zeit, Anzeichen von menschlichen Spuren, von Naturkräften, Ablagerungen organischer Substanzen, Verwundung und Folter, Schicksal des Vergänglichen.

 

• 20 Emil Schumacher In seinem Werk ist die Autonomie der Materie gegeben. Aber die Geste ist ebenso gegenwärtig. Das Bild ist die Chronik seiner Entstehung.

 

4) Fragment und Objekt

Fragment ist ein Teil. Ein Teil erinnert an ein Ganzes.

• 21 Antoni Gaudí setzt Keramik- und Glasstücke, Scherben eingepresst in Zement als dekorative Oberflächengestaltung ein. Bank Parc Güell Barcelona.

Mehr bei barcelona-tourist-guide

 

• 22/23 Kurt Schwitters Collagen aus gerissene, bedruckten Papieren  sind ähnlich gemacht. Jedes Stückchen erinnert an ein anderes. Mitunter berichten lesbare Fragmente von politischen Ereignissen!  Schwitters Assemblagen vereinen so ebenfalls Erinnerungsstücke, die gelegentlich auf die Melancholie des Alterns anspielen.

 

Mehr bei  www.kurt-schwitters.org

 

• 24 Hans Arp Holzstücke sind montiert als Erinnerung an einen Schiffbrüchigen. Die verwitterten Stücke tragen die Spuren der Zeit.

 

• 25 Raymond Hains Nouveau realisme, zeigt eine Decollage als gerahmter Teil einer abgerissenen Plakatwand. Hains präsentiert sie ohne sie weiter zu überarbeiten.

 

• 26 Arman, Poubelle ménagère, Spuren des Alltags im Ganzen. Chaotisch freie Anordnung von Alltagsgegenständen als Spuren zivilatorischen Lebens.

 

• 27 Daniel Spoerri, Hahns Abendmahl, Reste nach einem Abendessen konserviert. Lediglich fixierte Wirklichkeit. Zurückgelassene, verbrauchte, verstoßene Dinge, die einmal das Leben begleiteten.

 

• 28 Tony Cragg, Selbstbildnis mit Sack, aus angespülten Plastikteilen, die er eingesammelt und zu einer Gestalt zusammen gesetzt hat an der Seite eines Seesacks. Die Materialien sind vom Menschen hergestellt oder zumindest bearbeitet und sind damit  Bestandteile der heutigen Zivilisation.

 

5) Aktion und Transformation

Sucht eine Erweiterung der Darstellungsmittel „Zeichnen in die Natur“.

• 29 Richard Long, A line made by walking, 1967, hinterlässt eine Linie, in dem er hin und hergeht. Dieser Trampelpfad, seine Spur wird Zeichen in der Natur. Arbeiten der Earth Art oder Land Art suchen,  beschreiben und dokumentieren bzw. hinterlassen in der realen Welt Spuren menschlicher Existenz.

Mehr bei www.richardlong.org

 

• 30 Dennis Oppenheim, Ground Mutations, Shoe prints, 1969. Reifen- und Fußspuren in der Erde. Der Fußabdruck von Armstrong auf dem Mond war vielleicht der Anlass dazu.

Mehr bei www.haeusler-contemporary.com

 

• 31 Robert Smithson, Asphalt rundown, 1969. Asphalt wird von einem Lastwagen auf einen Berg ab gekippt. Die Aktion fand am Rande Roms statt als Hommage an das Dripping-Verfahren Pollocks. Asphalt hat eine Spur hinterlassen. Auf die Umwelt bezogen ergibt sich noch eine Dimension der Aussage: Autostraßen, als asphaltierte Flächen, beanspruchen immer mehr Erdoberfläche.

Mehr bei http://www.robertsmithson.com/films/films.htm

 

• 32 Michael Heitzer, Dragged Mass Displaced, 1971. Ausgebaggerter Schutt. Das Erdreich samt der Grube wurde Spur der Handlung – Fülle und Leere, Positv- und Negativform.

Die Spur ist das, was oft schwer als Kunst zu fassen ist.

 

• 33 Guiseppe Penone, Unroll your skin/stone, 1971. Beispiel aus dem Bereich der Arte Povera. Penone hat einen Kieselstein angefasst, die darauf zurück bleibende Spur eingraviert. Jeder Körper hat eine Oberfläche, die als Grenze wirkt. Mit der Berührung wird diese Grenze aufgebrochen und hinterlässt eine Spur. Minimalform der künstlerischen Gestaltung.

 

 

6) Dokumentation und Fiktion

Die Erinnerung ist ein wesentlicher Bestandteil der Spur.

• 34 Joseph Beuys, Aktion „Ausfegen“, 1. Mai 1972. Der Inhalt der Vitrine geht auf Objekte zurück, die Elemente einer Aktion waren. Es werden also Objekte als Spuren von Handlungen gezeigt.

 

• 35/36 Christian Boltanski hat Schaukästen gestaltet, die den Blick zurück als Spurensicherung und Erforschung von Einzel- oder Gruppenschicksalen thematisieren. So versucht er etwa die Kindheiten anderer zu rekonstruieren, wobei der Blick zurück geht zu einem 

abgeschlossenen Prozess. Boltanski hat 150 Amateurfotografien gesammelt und geordnet als Album der Familie D. Es sind aber nicht die Bilder einer Familie D., sondern eine fiktive Zusammenstellung. In dieser Arbeit legt er Spuren indem er eine Geschichte erfindet also Scheinobjektivität, Fiktion, die keine Dokumentation mehr ist.

 

• 37/38 Nikolaus Lang zeigt Bilder von Häusern, Hütten eines Einwanderers aus der Schweiz. Vier der sieben Geschwister waren von den Dorfbewohnern nicht erwünscht und blieben Außenseiter, bauten sich aber am Rand des Ortes Hütten. Er fragt nun nach der Vergangenheit dieser Menschen und trägt Objekte aus deren Herkunft zusammen. Es ging ihm dabei um sein eigenes Zurechtfinden.

„Das ganze Leben ist eine Art Spurensuche“. Suche nach sich selbst und Suche nach den anderen.

 

• 39/40 Anne und Patrick Poirier bauen Konstruktionen als Modelle. Abformungen, Sammlung von Steinen, Fotos führen zu einer Rekonstruktion des Bildes, das sich das Ehepaar Poirier von Ostia gemacht hat. Fiktionen und Überlieferungen sowie Reflexionen  vereinigen sich.

Die Mutter der Künste ist die Erinnerung sagt eine griechische Sage. Spuren gehen immer zurück, nie in die Zukunft.

 

7) Fotografie

Foto ist die Spur schlechthin. Die Fotografie als Zeugnis der Vergangenheit.

• 41 George N. Barnard. Historische Bilddokumente kriegerischer,  politischer, gesellschaftlicher Ereignisse.

 

• 42 Timothy O´Sullivan. Naturdokumente. Felswand dokumentiert den momentanen Stand der Erosion.

 

• 43 Edward Weston. Natur, Technik und Ästhetik.

 

• 44 Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze)

 

 

• 45 Richard Avedon.

 

• 46 Raymond Depardon

(Es ist nicht die Kunst, die das erzeugt, wichtig ist, dass der Fotograf das sieht. Fotografie ist eine Frage des Auges, des Ausschnittes und des Intellekts. Fragen werden aufgeworfen: „Wie kann man eine Landschaft ihres visuellen Inhalts wegen lesen?“)

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